Wer setzt biologische Waffen mitten in Europa ein?

Es ist Vorfrühling, die Sonne wärmt schon, aber die Bäume sind noch kahl. Auf einer Parkbank sitzen leicht zur Seite gekippt zwei Gestalten, die von allem nichts wahrnehmen. Betrunken schon so früh am Tag? Das passt doch nicht zu der jungen Frau, die neben dem Alten zusammengesunken ist.

Ein Polizist sieht genauer hin. Was er entdeckt, ist ein Spionagethriller, der Geschichte macht.

Die Gegend ist geschichtsträchtig. Der Salisbury Plain, die Landschaft um Stonehenge, gehört zu den reizvollsten Naturschönheiten, die England zu bieten hat. Die Kathedrale von Salisbury hat mit 123 Metern nicht nur den höchsten Kirchturm der Insel, sondern beherbergt auch die Magna Charta, das erste Verfassungdokument Englands von 1215, in dem die stolzen Freiheitsrechte des einzelnen gegenüber dem Staat formuliert sind: „Kein freier Mann darf entführt oder inhaftiert werden oder seines Eigentums oder seiner Regeln oder seiner Gewohnheiten enteignet, geächtet oder ins Exil verbannt oder sonstwie vernichtet werden.“ Die beiden zusammengesunkenen Gestalten auf der Parkbank sollten vernichtet werden. Von einer staatlichen Macht? Das ist bis heute nicht vollständig aufgeklärt. Es sind Sergei Skripal, ein ehemaliger Doppelagent, Russe mit britischem Pass, und seine Tochter Julija. Sie sind die ersten Opfer eines Anschlags mit einer verbotenen biologischen Waffe, dem Nervengift Novichok, das im kalten Krieg von der Sowjetunion entwickelt wurde. Novichok zerstört die Produktion eines lebenswichtigen Enzyms, das als Neurotransmitter in den Synapsen gebildet wird. Wenn die Nervenzellen Informationen nicht mehr weitergeben können, versagen die Muskeln bis hin zur Atmung. In der Anwendung funktioniert der verbotene militärische Kampfstoff wie ein Zweikomponenten-Kleber. Aus zwei in sich völlig harmlosen chemischen Stoffen wird durch die Vermischung ein hoch gefährliches Nervengift. Doch die Opfer überlebten den Anschlag mit schweren Schädigungen. Die junge Frau besser als ihr Vater. Nach einem Motiv für den Anschlag muss man nicht lange suchen: Skripal hat als russischer Spion in den 1990er-Jahren, als die Sowjetunion zerbrach, die Seiten gewechselt und dem englischen Geheimdienst MI6 die Identitäten des russischen Spionagenetzwerks in Westeuropa verraten. Dafür wurde er 2004 als Agent des MI6 in Russland enttarnt, verhaftet und wegen Hochverrats von einem Moskauer Militärgericht zu 13 Jahren Arbeitslager verurteilt. 2010 kam er im Rahmen eines Austauschs gefangener Spione frei und zog in den Süden Englands. Anlässlich der Austauschaktion sagte Putin im russischen Fernsehen: „Die Verräter werden ins Gras beißen, vertrauen Sie mir. Diese Leute haben ihre Freunde betrogen, ihre Waffenbrüder“. Danach starben Skripals Bruder bei einem mysteriösen Autounfall in Russland, seine Frau an einem Krebsleiden und sein Sohn bei einem Urlaub mit Freundin in St. Petersburg laut Autopsiebericht an Leberversagen. Die offiziellen Todesursachen der mysteriösen Todesfälle wurden von der Familie Skripal immer bezweifelt. Der Nervengift-Anschlag auf Vater und Tochter spricht noch eine stärkere Sprache, die man schon 2006 gehört hat, als auch in England mit radioaktivem Pollonium Alexander Litwinenko ermordet wurde und die Spur der Radioaktivität eindeutig nach Russland führte: Alle sollen es wissen, dass Verräter Russlands sich auch im Westen nicht sicher fühlen dürfen. Wer immer das Nervengift eingesetzt hat, wollte für diese Botschaft weltweite Aufmerksamkeit.