„Wieso findest du denn keinen Freund?“ fragt ein Junge, gerade mal groß genug im Auto ohne Kindersitz fahren zu dürfen, seine Klassenkameradin an der Bahnstation. Ich überhöre den weiteren Verlauf des Gesprächs, drehe mich um, gehe weiter und sehe fünf Schulkinder im Kreis stehen. Sie unterhalten sich über „die große Liebe“. Zwei Pärchen sind deutlich zu erkennen, während sich das befragte Mädchen zunehmend unsicher und bedrückt zurückzieht. Um sich die Aufmerksamkeit der Klasse zu sichern, ist es heutzutage fast schon ein Muss in der Mittelstufe einen „Partner“ zu haben. Wer dies nicht hat, ist nicht „cool“ und kann im Social-Media-Tratsch und anderen Dauergesprächen darüber nicht mithalten. Sobald man seine Liebe dann gefunden hat, beginnt das gängige Procedere: Der Facebook-Status wird geändert. Die Instagram-Seite mit einem roten Herzchen geschmückt. Früher sahen die Lehrpläne den Aufklärungsunterricht im Fach Biologie in der 8. Klasse vor. Heute wird alles Wissenswerte dazu noch vor der Fotosynthese, direkt nach der Grundschule unterrichtet, um so viele Jugendschwangerschaften zu verhindern wie möglich. Obwohl Social-Media-Apps erst ab einem Mindestalter von 13 Jahren verwendet werden dürfen, ist es für viele Kinder ein Spaß, mit Fake-Accounts auf Tinder andere Menschen zu bewerten und mit ihnen zu chatten. Es ist der unstillbare Hunger nach dem perfekten Partner, der verzweifelt auf den Smartphone-Apps gesucht wird, weil die Realität dafür ohnehin zu banal ist. Danielle Cohn, eine „Influencerin“ aus Amerika wurde von ihrem eigenen Vater angezeigt. Ihr und ihrer Mutter wird vorgeworfen, das Mädchen für 15 zu verkaufen, obwohl sie in Wirklichkeit erst 13 ist, nur um mit älteren Jungs zusammenzukommen und dadurch mehr Aufmerksamkeit von den Medien zu erlangen. In einem „geleakten“ Video hört man die Mutter im Hintergrund davon reden, dass die Anzahl der „Likes“ immer dann steigt, sobald Danielle einen Freund hat und mit ihm vor der Kamera posieren kann: „Weil die Menschen das heute sehen wollen und sich gerne in andere Beziehungen investieren“.
Ist die romantische Tugend der einen, ewigen Liebe also nur noch blanke Illusion? Nein. Nicht, wenn man den Umfragen glaubt. Für viele Jugendliche gehört die große Liebe zum Leben dazu. Die Umfrageergebnisse auf Spiegel online, die einen Trend zu individualisierten Lebensformen feststellen, zeigen, dass die Sehnsucht nach der einen, großen Liebe lebendig bleibt. Wenn es stimmt, dass die Liebe ein Grundbedürfnis stillt, dann lässt sich nicht so ohne Weiteres auf sie verzichten, zumindest wird einem dann etwas Wichtiges im Leben fehlen. Es gibt sie auch, die Liebe auf den ersten Blick. Das können all die bestätigen, die sie schon erlebt haben. Es gibt diese Liebe, die über uns hereinbricht wie ein Blitz. Doch ob es wirklich die „Liebe fürs Leben“ ist, muss sich erst zeigen. Laut Claus Malzahn, zerbricht inzwischen jede zweite Ehe, während sich 90 Prozent aller Deutschen eine erfüllte Partnerschaft als wichtigstes Lebensziel setzen. Ist das nicht widersprüchlich? Im Durchschnitt scheitert eine Ehe heute nach 14 Jahren und zwei Monaten. 1992 hielt eine Ehe im statistischen Mittel nur elf Jahre und sechs Monate. Sind diese Werte aber wirklich auf die Liebe zurückzuführen, die heute einfach „länger hält“, oder ist es vielleicht aber der sicherere und einfachere Weg, sich nicht mit den Folgen einer Scheidung auseinandersetzen zu müssen, nicht etwa nur die finanziellen Folgen sondern auch das herabgesetzte Ansehen in der Gesellschaft. Man wird abgestempelt als wäre man nicht einmal in der Lage eine glückliche und stabile Ehe zu führen. Fast 30 Prozent aller Paare streiten über Unordnung, mehr als 20 Prozent über das Fernsehprogramm. Dies verdeutlicht auch, wie sich die Gesellschaft verändert hat. Vor 50 Jahren gab es noch wirkliche, andere Probleme, mit denen sich die Menschen den Kopf zerbrechen mussten. Heute sind die Erwartungen an die perfekte „große Liebe“ so hochgeschraubt, dass die Menschen mit ihrem normalen menschlichen Schwächen noch Fehler suchen, wenn sonst keine zu finden sind. Zwei Drittel aller Geschiedenen fragen sich rückblickend, ob es all das Geld und den Stress wert war sich zu trennen, schätzen Paartherapeuten. Vor ein paar Jahren geisterte ein Foto durch die sozialen Netzwerke, das ein altes Ehepaar in Schwarz-Weiß zeigt. Zwei Menschen, denen das Alter buchstäblich ins Gesicht geschrieben ist. Die beiden werden gefragt, wie sie es geschafft hätten, über all die Jahre zusammenzubleiben. Ihre ebenso einfache wie bestechende Antwort: „Wir wurden in einer Zeit geboren, in der man kaputte Dinge reparierte anstatt sie wegzuwerfen“.
Wie alltagstauglich eine Beziehung tatsächlich ist, stellt sich oft erst nach Jahren des Zusammenlebens heraus. Natürlich kracht man auch mal gegeneinander. Doch die Kunst wäre es, an den Problemen zu arbeiten und nicht gleich das Handtuch zu werfen. Interessanterweise ist der am besten klebende Kitt, der Paare auf Dauer zusammenhält, nicht ein Kind – sondern eine gemeinsame Immobilie. Das fand „Die Zeit“ heraus. Seit Mitte der neunziger Jahre verschwindet das Wort „love“ aus den Texten der Popsongs. Dafür wird in den Charts mehr über Sex, Gewalt und Kiffen gesungen. Man kann diesen Trend auch als Ausdruck einer allgemeinen Desillusionierung deuten. Das größte Thema der Leidenschaft seit Shakespeares Zeiten wurde über die Jahre immer lascher, lauer und langweiliger. Selbst die „Verbotene Liebe“ ist ins schlechte TV-Vorabendprogramm abgesunken, alles schon irgendwie ab- und ausgelebt. Man wendet sich realistischeren Zielen wie Karriere, Kinder und Freundschaft zu. In einer Welt, in der sich alles nur noch um Beruf, Ansehen und Geld dreht, ist es klar, dass die Liebe auf der Strecke bleibt. Sie muss sich hinten anstellen. So lange die Kraft sie zu pflegen ausbleibt, steht sie nicht an erster Stelle. Aber müssen wir uns wirklich an unsere Mittelmäßigkeit gewöhnen? Gibt es dafür keinen Service? Keine Dienstleister, Fachleute oder Spezialisten, wie für alles andere auch? So wie ein Auto regelmäßig zum TÜV muss, könnten Partner doch auch zu Therapeuten gehen. Vielleicht lässt es sich vermeiden, gleich vor die Wand zu fahren. Durch die Augen eines Pessimisten könnte man es so sehen, dass Liebe und Dauer sich zueinander verhalten wie Pfeffer und Salz. Sie passen fast immer, aber nicht in allen Fällen zusammen, bevor man das Essen verwürzt und es ungenießbar wird. Die Eheratgeber verdienen sich eine goldene Nase an den Liebesproblemen der anderen. Meist haben sie selbst schon alle Katastrophen erlebt, vor denen sie andere bewahren wollen. Während Paare bei Therapeuten sitzen, rennen die Singles noch der unerreichbaren „echten“ und letzten Liebe hinterher. Jeder wünscht sie sich, keiner glaubt wirklich an sie. Nur ein letztes Wort noch an alle, die die ihre bessere Hälfte bereits gefunden haben: hoffentlich gelingt es euch mit euren Mitmenschen Sokrates` These zu widerlegen und ihr seid, ob verheiratet oder nicht, so oder so glücklich.