Der Stellenwert der Lüge in unserer Gesellschaft. Klingt irgendwie kompliziert, oder? Würdet Ihr zu diesem anspruchsvollen Thema einen Aufsatz, der als Schulaufgabe in der Oberstufe zählt, spontan schreiben können? Ein Elftklässler ist das Risiko eingegangen und kam zu folgendem Ergebnis. Ein Essay
Wer es nicht selber verwendet,
der sollte es zumindest kennen: Instagram. Eine der wohl beliebtesten Apps und sozialen Medienplattformen fast aller deutscher Jungs und Mädels zwischen zwölf und 22. Ja sogar auf dem Handy meiner vielleicht 30 Jahre alten Akkordeonlehrerin habe ich es durch Zufall gesehen! Das Prinzip ist einfach: Man lädt Fotos hoch. Egal, welche. Sei es als Mädchen von seinen sonnengebräunten Beinen, vor denen sich ein weißer Sandstrand mit blauem Meer erstreckt, in welchem gerade die Abendsonne versinkt, oder als Junge von seinem teuren, neuen Mountainbike. Gefällt einem nun ein Foto eines anderen Nutzers, so kann man dies mit einem kurzen Klick kundtun und möchte man mehr davon sehen, kann man die Seite des anderen sogar abonnieren. Das Prinzip wirkt ähnlich wie Facebook, nur, dass es sich auf Bilder beschränkt. Sehr schlicht, denkt man sich, doch wundern sich wahrscheinlich sogar die Erfinder, was man mit Bildern so alles machen kann.
Sehr populär sind im Moment zum Beispiel so genannte „Beichtenseiten“. Verschiedene User schicken den Inhabern Nachrichten mit etwas, das einem auf dem Herzen liegt und dieser postet das dann als Bild. In Kommentaren wird darüber diskutiert – alles anonym versteht sich. Neulich habe ich mir wieder so eine Seite angeschaut. Dort beichtete doch tatsächlich ein 13-jähriger Junge, dass er regelmäßig mit zwei unterschiedlichen Mädchen schläft. „Na klar!“, denke ich mir – mit einem milden Lächeln. Der nächste hatte dann wohl was mit Megan Fox persönlich. Doch der nächste ist ein 17-Jähriger, der ziemlich genau dasselbe beichtet. Auch gelogen? Oder ist da doch etwas dran? Und das ist genau das Problem des gesamten Internets: Täuschungen und Lügen überall. Egal, ob auf Instagram oder wenn man für sein neuestes Referat recherchiert. Mit jeder digitalen Quelle muss man vorsichtig umgehen. Lügen sind allgegenwärtig.
Das Lügen lernen
wir allerdings nicht erst im Internet, sondern bereits als Kinder. Mit Schummeln, Mogeln, Tricksen oder wie auch immer man es nennen mag, wollen wir uns seit jeher Ärger ersparen oder (kleine) Vorteile verschaffen. „Nein, Mama, ich habe die Gummibärchen nicht alleine gegessen, die habe ich mit Jonas von nebenan geteilt; kann ich dann jetzt noch welche haben?“ Der Standardsatz meiner Kindheit. Ich habe Gummibärchen geliebt und, um ehrlich zu sein, tue ich es noch immer. Jonas hingegen war eher der Schokoladentyp und so haben wir dieselbe Masche bei ihm durchgezogen. Ich hatte somit meine doppelte Portion Gummibärchen und er seine Schokolade. Zumindest, bis unsere Eltern dahinter gekommen sind. Zwar wird einem in seiner Kindheit immer eingebläut, dass man nicht lügen soll („Lügen haben kurze Beine“), doch zieht sich das Lügen durch unser ganzes Leben hindurch. Auch in der Schule, wenn wieder der berühmte Hund unsere Hausaufgaben gefressen hat oder, wenn wir bei einer Prüfung vom Nachbarn abschreiben oder einen Spickzettel unterm Tisch verstecken. Werden wir dabei erwischt, bekommen wir Probleme. Werden wir allerdings nicht ertappt, so haben wir möglicherweise einen Vorteil aus unserer Lüge gezogen und doch gleichzeitig niemandem geschadet.
„Lügen ist ein Laster, wenn man damit Schaden anrichtet aber eine Tugend, wenn man damit nützt.“ So äußerte sich bereits der berühmte französische Philosoph Voltaire zu dem Thema und steht damit nicht alleine. Diese Theorie, dass das ethisch sei, was den größten Nutzen für alle Beteiligten bringt, also, dass gegebenenfalls auch Notlügen gerechtfertigt sind, ist der so genannte Utilitarismus und der hat viele Anhänger, vor allem in heutiger Zeit – aber auch einige Gegner. Der entschiedenste Gegner der Philosophie Voltaires ist der ungefähr zur selben Zeit gelebt habende Deutsche Immanuel Kant. Sein Grundsatz, der kategorische Imperativ, stellt die Wahrheit über alles. „Handle so, dass der Grundsatz deiner Handlungen stets als Gesetzesgrundlage einer Nation dienen könnte“, lautet er. Unwahrheit, und das stellt Kant an anderer Stelle extra klar, ist schädlich. Sie schädigt das Zusammenleben. Absolute Wahrheit ist das höchste Gut. Denkt man darüber nach, hat auch unsere Wertvorstellung eindeutig ihre Berechtigung. Vor allem der kategorische Imperativ hört sich vernünftig an. Auch in der wohl ältesten Normenansammlung westlicher Kultur, der Bibel, heißt es klar: „Du sollst kein falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ Allerdings, Religion, vor allem das Christentum, und Wahrheit? Passt das zusammen? Schwierig.
Zu oft bereicherte sich die religiöse Führung des Katholizismus an der Gottesfurcht ungebildeter Bevölkerung, mithilfe zum Beispiel von Ablassbriefen, und baute sich prächtige Kathedralen, während man Ehrlichkeit und Demut predigte. Eine Sache, die sich in unserer heutigen Gesellschaft kaum verändert hat. Nur, dass sie heute nicht mehr nur der Kirche, sondern Konzernen, Politikern und Vereinen, wie zum Beispiel der FIFA zu Recht vorgeworfen werden kann. Vor allem bei der zuletzt genannten Organisation, die doch eigentlich lediglich einen friedlichen Sport verwalten soll, häufen sich die Korruptionsskandale. Firmen, wie Nestlé oder Coca Cola, stehen für ihre teilweise fragwürdigen Geschäfte mit dem Trinkwasser in Entwicklungsländern schon lange in der Kritik und zu den Politikern, den Leuten, die ein Land regieren und denen der kategorische Imperativ ganz besonders am Herzen liegen sollte, denn der Grundsatz ihrer Handlungen dient ja gegebenenfalls wirklich als Gesetzesgrundlage einer Nation, soll man Vertrauen haben. Man zeige mir mal bitte einen Politiker, egal, aus welchem Land, der all seine Wahlversprechen komplett erfüllt hat oder einen König, der sich nicht an seinem Volk bereicherte. Ich denke nicht, dass sich da allzu viele finden werden. Aber auch die Könige und Politiker sind nur Menschen und Menschen haben es von Kinderbeinen an in der Natur, zu mogeln, zu tricksen, zu lügen und zu betrügen.
„Wie auch immer,
ich kann ja eh nichts daran ändern“, denke ich mir. Gelangweilt schalte ich weg von Instagram und den ganzen 13-jährigen Aufreißkünstlern und rufe meine neuesten SMS ab. Ganz besonders gespannt bin ich auf die neuesten Updates von meinen beiden „Schätzchen“. Die eine will schon wieder, dass ich bei ihr übernachte, die kriegt wirklich den Mund nicht voll. Nur die andere wahrt schon seit geraumer Zeit Stille. Ob sie wohl den Braten riecht? Vielleicht hat sie ja zufällig die anonyme Beichte eines 17-jährigen Jungen auf Instagram gelesen. Ich schreibe ihr mal ein einfaches „Hey“ mit einem süßen Herzchen und einem Kussmund dazu. Was bringt einem schon die absolute Aufrichtigkeit? Die Menschen sind alle so geartet, dass sie lieber eine Lüge als eine Absage hören wollen, hieß es schon im alten Rom. Solange wir alle unseren Spaß haben und uns die Fäden nicht entgleiten, ist doch alles in bester Ordnung. Ja, ich glaube, ich könnte der nächste FIFA-Präsident werden. Ein Prost auf Voltaire!